Deutschland in der Krise?

Nach dem historischen 4:4 der Deutschen gegen Schweden wird die Kritik an Jogi Löw und seiner Mannschaft neu entfacht. Ist sie gerechtfertigt? 

Das mediale Echo ist geteilt. "Die Krise ist da in der deutschen Auswahl", meint beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. Vielleicht sei sie auch nie wirklich weg gewesen. Der Focus hingegen ist der Ansicht, dass „die deutsche Mannschaft in schwierigen Situationen teils mental nicht genug gefestigt ist und es an der einen oder anderen kantigen Persönlichkeit im Team mangelt, der die Spieler auch einmal mitreißt und unbedingten Sieges- und Einsatzwillen verkörpert.“

Der seit der EM in Polen und der Ukraine leicht wankende Coach Jogi Löw ging direkt in die kontrollierte Offensive. "Teile der Kritik ermüden mich", blockte er jegliche aufkeimende Kritik an seiner Person nach der Niederlage gegen Schweden ab. Seine nach der WM im eigenen Land so bewunderte Souveränität wollte er mit dieser Attitüde untermauern. Der Fokus der Kritik an Löw ist seit der EM, dass er einen müden Eindruck mache. Seine Antwort auf diese Kritik war demnach nicht die am souveränsten formulierte. 

Es fehle ein Spieler, der dazwischen haut. Mit einer "Kampfsau wie Sven Bender", wie Bastian Schweinsteiger es formulierte, indem er seinen Unmut in der Kabine nach dem Schwedenmatch lautstark monierte, wäre das alles nicht passiert. Mit einem Spieler wie ihm, einem der dazwischenhaut, hätte die Mannschaft dieses Spiel nicht verloren. Jogi Löw ist da anderer Meinung. Die Mannschaft müsse aus dieser Erfahrung lernen. Aber auch er hätte einen Typen wie Bender, der wegen einer Knieverletzung fehlte, gerne dabei gehabt. Schliesslich ist Bender keiner der Kategorie Jens Jeremies, sondern hat auch spielerische Klasse. Ein als modern geltender Mittelfeldspieler, der  kämpferisch wie kreativ überzeugen kann und die nötige Charakterstärke besitzt, ein Team zu motivieren, mitzureißen und in Krisenzeiten im richtigen Moment aufzuwecken.

 "Dass wir uns so aus dem Rhythmus bringen lassen, hätte ich nie gedacht. In der Kabine herrscht Totenstille.", sagte Löw direkt nach dem Spiel eingestehend. Mit einigen Tagen Abstand äußerte Löw sich gegenüber der dpa selbstkritisch: "Ich konnte auch nicht glauben, dass das Spiel kippt. Ich hätte in der Schlussphase mit einer Auswechslung ein Signal an die Mannschaft senden und noch etwas stoppen können. So etwas habe ich in 20 Jahren auch noch nicht erlebt. Daraus lerne auch ich!“

Der Bundestrainer will seinen Führungsstil künftig nicht ändern. "Ich halte nichts von einem Ton wie auf dem Kasernenhof. Wir setzen auf Kommunikation, natürlich geben wir die Richtung vor. Das haben wir die letzten Jahre auch kompromisslos gemacht, wenn es um die sportlichen Dinge ging. Festzuhalten bleibt: Diese Mannschaft hat sich trotz allem hervorragend entwickelt."

"Der gesamte DFB steht kerzengerade zu Löw", schob Wolfgang Niersbach den Kritikern des deutschen Teamchefs einen Riegel vor. Er habe nicht den Hauch eines Zweifels an Joachim Löw. Niersbach untermauerte seinen Standpunkt, indem er bedauerte, dass das nächste Qualifikationsspiel in Kasachstan leider erst am 22. März 2013 stattfinde und man so nicht sofort diese historische Schmach auch in der Tabelle wettmachen könne. Die Partien am 14. November in den Niederlanden und am 5. Februar 2013 in Frankreich seien lediglich "normale" Länderspiele auf dem Programm. Ein indirekter Freibrief für den Trainer, der sich keine Sorgen machen muss bis zum Spiel im März an Rückendeckung seitens der DFB-Spitze zu verlieren.

Auf die Entwicklung der Spielkultur der Mannschaft trifft diese Erkenntnis mit Sicherheit zu. Nationalteams wie Spanien, Italien oder Frankreich, denen jahrelang in spielerisch-kreativer Hinsicht nicht das Wasser gereicht werden konnte, hat das Team mittlerweile eingeholt. Die als typisch bezeichneten deutschen Eigenschaften wie Wille und Kampfgeist sind jedoch tief in der deutschen Fußballerseele eingebrannt, wie ein genetisch verankertes Merkmal. Der Fußballfan kann und will auf diese Tugenden nicht verzichten, wie die Reaktion nach dem Schwedenspiel zeigt.

Selbstverliebt und hochlobend war die Reaktion der deutschen Fans und auf der deutschen Bank des Berliner Olympiastadions als das Team zur Halbzeit mit 4:0 führte. Nicht mal eine Stunde später schlug die Stimmung komplett um. Es reiche eben noch nicht für die absolute Spitze – so der allgemeine Tenor, der nach solchen Spielen mit Vorliebe angeschlagen wird. Verständlich, denn die geplagte deutsche Fußballerseele strebt nach mehr. 

Schliesslich soll die Mannschaft 2014 bei der WM in Brasilien nichts geringeres erreichen als  - dann nach 18 Jahren ohne Titel seit der EM 1996 - den Weltmeistertitel auf spielerisch-kämpferische Art zu gewinnen, wobei sie den Prototyp des modernen Fußballs zelebrieren soll.

Dieser sehnlichste Wunsch der deutschen Fußballfans wird möglicherweise begleitet durch das öffentlich gern geäusserte Selbstverständnis des FC Bayern, der die Spitze des deutschen Vereinsfußballs symbolisiert, und dabei gern ein Jahr ohne Titel als ein verlorenes Jahr bezeichnet.

Dass das Spiel gegen Schweden vor allem Werbung für den Fußball war, wurde medial nicht ansatzweise angemerkt. Der Verlauf der Partie in der letzten halben Stunde des Spiels lockte sogar Gelegenheitsgucker begeistert vor den Bildschirm. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt war der eingefleischte deutsche Fußballfan in Person von Zuschauern, Spielern, Funktionären oder Journalisten. 

Im Weltfußball hat sich Deutschland wieder einen Namen gemacht, und zwar mit Jogis Jungs. Dessen Mannschaft hat sich insbesondere mit Spielern wie Mesut Özil, Thomas Müller, Marco Reus oder Mario Götze vor allem in spielerischer Hinsicht in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt.

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel strahlte in der Halbzeitpause von der Tribüne des Olympiastadions mit ihrem wahlkampferprobten grünen Sakko in den nicht vorhandenen Berliner Sternenhimmel. Welch Erleichterung in so krisengeplagten Zeiten. Dass Fußball und Politik zwei eng vernetzte Systeme sind, ist vielen Protagonisten spätestens seit dem - nicht zuletzt auch von der Politik mit-inszenierten - Erfolg der Fußball WM 2006 noch klarer geworden. Deutschlands politische Führungsrolle in Europa muss auch auf fußballerischer Ebene sichergestellt und genutzt werden.

Nach Spielende passte es daher scheinbar auch, dass die mediale Öffentlichkeit - in Zeiten in denen in der Politik jedes dritte Wort und jedes zweite Thema mit der Eurokrise zusammenhängt- auch der deutschen Nationalmannschaft eine Krise bescheinigt wurde. 

Nur eine medial inszenierte  Verknüpfung zwischen Politik und Fußball oder vielleicht tatsächlich eine Stagnation oder gar Rückschritt in der Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft, die eine erfolgreiche Weltmeisterschaft in Brasilien gefährdet? Immerhin ist dieses Spiel durch seinen kuriosen Spielverlauf nun in - aus deutscher Sicht - schwarz-rot-dunklem Licht historisch verankert. In jedem Fall ein Schuss vor den Bug des deutschen Riesen. Und eine Möglichkeit seine Maschinerie für das große Ziel zu optimieren.

Wie kann dieses als Niederlage gewertete Unentschieden gegen eine als - im europäischen Vergleich - als mittelmäßig geltende Mannschaft wie Schweden als Startsignal für eine besseren deutsche Zukunft umgemünzt werden, sollte also die Frage sein. Jogi Löw muss die Antwort liefern. Er hat nun zunächst gegen die geliebten Nachbarn aus Holland die Chance für vorweihnachtliche Versöhnung zu sorgen.

Denn der deutsche Fan wünscht sich vor allem auf dem grünen Rasen einen krisenfreien Kick seiner Mannschaft. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, dass bei der geringsten Beeinträchtigung des perfekten Systems – wie nach dem Abpfiff des Spiels Deutschland gegen Schweden - ein Schwall der Empörungen, gnadenlosen Analysen, konstruktiven Optimierungsversuchen, aber in jedem Falle emotionalen Äusserungen durch die medialen Kanäle strömt. Schliesslich ist Emotion die Währung des Fußballs.

 

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